Julia Wedekind

Psychologin und Systemische Beraterin

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Parentifizierte Kinder: Die unsichtbare Last der emotionalen Verantwortung

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Parentifizierte Kinder: Die unsichtbare Last der emotionalen Verantwortung

Als Psychologin und systemische Beraterin ist es mir ein Anliegen, ein oft unterschätztes, aber äußerst bedeutsames Phänomen anzusprechen: die Parentifizierung von Kindern.

Was sind parentifizierte Kinder?

Parentifizierte Kinder sind jene, die früh gelernt haben, ihre eigenen Bedürfnisse und Identitäten zugunsten der Bedürfnisse ihrer Eltern zu opfern. Sie übernehmen früh Verantwortung, trösten ihre Eltern, schlichten Streitigkeiten und stiften Frieden, während ihre eigenen Träume und Bedürfnisse in den Hintergrund treten. Es ist ein komplexes und oft auch schmerzhaftes familiäres Muster, geprägt von einer tiefen inneren Zerrissenheit zwischen der Liebe zu ihren Eltern und dem Verlangen nach einem eigenen Leben. Für die Außenwelt häufig kaum sichtbar. Keiner in der Familie entscheidet sich bewusst dafür. Doch trotz dieser Herausforderungen gibt es Hoffnung, einen Funke des Potenzials. Es ist die Möglichkeit, sich aus den Strukturen der Vergangenheit zu lösen und die eigene Identität zu entdecken – eine Identität, die nicht durch die Erwartungen anderer definiert wird, sondern durch die authentische Essenz des Selbst. Das Potenzial sich die inneren Persönlichkeitsaspekte zurückzuerobern, die einst zugunsten der familiären Stabilität unterdrückt wurden. Darum soll es in diesem Artikel gehen.

Instrumentelle und emotionale Parentifizierung

Parentifizierung kann in zwei Hauptkategorien eingeteilt werden: instrumentelle und emotionale. Während erstere sich auf die Übernahme konkreter Aufgaben bezieht (z.B. Haushaltstätigkeiten), beinhaltet die emotionale Parentifizierung das Übernehmen von Verantwortung für die Gefühle und das Wohlbefinden der Eltern. Letzteres hat oft tiefgreifendere und destruktive Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes, worauf in diesem Blogbeitrag der Fokus liegt.

Auswirkungen bis ins Erwachsenenalter

Die Auswirkungen der Parentifizierung reichen oft weit über die Kindheit hinaus und manifestieren sich in den Beziehungen, die wir als Erwachsene führen – sowohl zu uns selbst als auch zu anderen.

Auf der persönlichen Ebene können erwachsene Kinder, die parentifiziert wurden, oft Schwierigkeiten haben, ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Sie richten sich ständig nach den Bedürfnissen anderer Menschen, vernachlässigen eigene Bedürfnisse und fühlen sich schuldig, wenn sie sich selbst Priorität einräumen. Dieses Verhalten kann zu einem Muster der Selbstaufopferung führen, das das Erleben von Selbstbestimmtheit und persönlicher Erfüllung beeinträchtigt.

In Beziehungen zu anderen können parentifizierte Kinder im Erwachsenenalter oft Schwierigkeiten haben, gesunde Grenzen zu setzen und ihre eigenen Bedürfnisse zu kommunizieren. Sie finden sich in ungesunden oder einseitigen Beziehungen wieder, in denen sie sich übermäßig darum bemühen, die Bedürfnisse ihres Partners zu erfüllen, während ihre eigenen Bedürfnisse ignoriert werden. Dies kann zu einer anhaltenden Dysbalance in Beziehungen führen und das Risiko von Erschöpfungsgefühlen erhöhen.

Darüber hinaus können parentifizierte Kinder als Erwachsene auch Schwierigkeiten haben, intime Beziehungen aufzubauen und emotionale Nähe zuzulassen. Sie könnten Angst davor haben, verletzlich zu sein und sich anderen zu öffnen, aus Angst, erneut abgelehnt oder im Stich gelassen zu werden. Dies kann zu einem Gefühl der Isolation und Einsamkeit führen, selbst wenn sie von Menschen umgeben sind.

Insgesamt lässt sich also zusammenfassen, dass Parentifizierung das Bewältigen wichtiger Entwicklungsaufgaben, wie der Ablösung von den Eltern, das Einstehen für eigene Bedürfnisse und das Gestalten von erwachsenen Beziehungen auf Augenhöhe, erschweren oder sogar behindern kann.

Chancen in der Entwicklung

Diese Auswirkungen sind nicht in Stein gemeißelt und es ist möglich Veränderungen herbeizuführen. Zudem ist auch nicht jede Form der Parentifizierung zwangsläufig destruktiv.

In der Bewusstwerdung dieses Musters liegt eine transformative Kraft. Als Erwachsene ist es möglich, aus diesem alten Muster auszusteigen und sich die inneren Anteile zurückzuerobern, die während der Kindheit vernachlässigt wurden. Durch qualifizierte Unterstützung und Selbstreflexion können parentifizierte erwachsene Kinder lernen:

  • ihre eigenen Bedürfnisse wieder zu erkennen und zu respektieren,
  • verlorengeglaubte Persönlichkeitsanteile und damit große Ressourcen zurückzuholen und
  • sich wahrhaftig und liebevoll anzunehmen.

Die Auseinandersetzung und Bewusstwerdung dieser Familiendynamik beinhaltet das Potential alte, vielleicht sogar fast vergessene, innere Anteile wieder ins Bewusstsein zu holen und damit wieder zum Leben zu erwecken. Es macht einen Raum auf für eine Erweiterung der eigenen – bisher gelebten – Identität und fordert dazu auf, unterdrückte Anteile wieder zu integrieren. Gelingt diese Integration ist dies häufig begleitet von einer Zunahme an Lebensfreude und Selbst-bewusst-sein. Eine Möglichkeit in der Annäherung an dieses komplexe familäre Muster besteht in der Biografiearbeit.

Es ist an der Zeit, die unsichtbare Last der Parentifizierung ans Licht zu bringen und eine Einladung an Betroffene den Blick auf die transformative Kraft, die dem innewohnt, zu richten.

Julia Wedekind
Julia Wedekind

Psychologin und Systemische Beraterin